Mittwoch, 27. Februar 2008
Nachtfahrt
1
Anil hielt an einem schönen Herbstabend vor Vigs Geschäft. Die Gipfel der Berge an der gegenüberliegenden Seite des Tales leuchteten noch einmal mattrot, ehe die Schatten an ihren Flanken bis über den Schnee hinausliefen und die Mächtigkeit des Gebirges dunkel umschlossen. Anils schwarzer Maruti Suzuki war vom indischen Straßenverkehr gezeichnet, angeschrammt und leicht verstaubt. Das Nummernschild DL wies ihn als einen aus dem Flachland kommenden, daher besonders gefährlichen Autofahrer aus. Dieser Einschätzung hatte er aber Hohn gespottet, wie er da zügig die kurvige und enge Bergstraße zum Laden hinaufgefahren und direkt vor der weißen Holztheke, keinen Handbreit vom Bordstein entfernt, zum Stillstand gekommen war. Der Shop ist zur Straße hin offen, so daß Vig, der Verkäufer, die Vorgänge draußen bestens sehen kann. Nur die Theke, hinter der die Flaschen in Wandregalen aus ebenfalls weißgestrichenem Holz aufgereiht sind, trennt ihn vom Verkehr. Nachts lässt er einfach die Stahljalousie hinunter und alles ist dicht.

Anil parkte direkt vor der Theke und stieg aus. Lederjacke, Pferdeschwanz im dunklen Haar, Jeans und Stiefel zeigten, daß es sich wohl nicht um einen unsicheren Neuverheirateten mit angehängter Braut handeltet. Er war keiner dieser Touristen aus der Hauptstadt, die das Tal im Anschluss an die Heiratssaison zur Freude der Hoteliers jedes Jahr heimsuchten.
„Bhai-saab, hast’n Kingfisher Strongwallah?“
„Yes, sir, setz dich, hier ist Platz, immer mit der Ruhe.“
Der Großstädter Anil hockte sich zum Dőrfler Vig in die Bude und zündete sich eine Goldflake an. Als Kundendienst hatte Vig in einer Ecke einen Hocker so stehen, daß man den dort Sitzenden von der Straße aus nicht einsehen konnte, was vielen Kunden als ein Stück seltener Anonymität sehr angenehm war. Er gab Anil die gewünschte Flasche aus dem großen Kühlschrank, dessen Tür ich nur mittels eines festgeklemmten Schraubenziehers am Aufschnappen hindern ließ. Dann lehnte er mich zurück, nahm sich auch eine Zigarette aus Anils Schachtel und tat das, was er in all den Jahren als Alkoholverkäufer am besten gelernt hatte: er wartete auf eine Geschichte. Doch anders als erwartet begann Anil nicht zu erzählen und so würde Vig die Hintergründe seines fahrigen Verhaltens erst sehr viel später in Erfahrung bringen, zu einem Zeitpunkt, an dem er sich an den coolen Jungen aus Delhi kaum mehr würde erinnern kőnnen.

Anil sog das Bier wie ein Verdurstender in sich hinein, zog zwischen den Schlucken schnell und flach an seiner Kippe und sah kaum zu dem Verkäufer hinüber. Der beschäftigte sich damit, ein paar Krümel Charras in eine Bedee zu drehen, denn der Boss hatte ihm verboten, selbst Alkohol zu trinken und irgendwie musste er die zähen Abendstunden bis zum Ladenschluss um 23 Uhr doch überstehen. Das scharfe Aroma des unverarbeiteten Tabaks in dieser Billigzigarette übertőnte den Geruch des Hasch, aber es war immer ein ziemliches Gepfriemel, das trockene kleine Tabakblatt der Bedee wieder zusammenzuschnüren. Und so fluchte Vig auch dieses Mal vor sich hin, als Anils Handy mit einem Techno-Sound zu läuten begann.

Mit einer schnellen Handbewegung zog er es aus seiner Jackeninnentasche, ließ es aufschnappen und bellte hinein: „Ja, Priya, where are you?“ (...) „I’m in Naggar, mh, ja, alles cool, wir kőnnen morgen früh fahren. Relax, baby, ich kann hier nicht noch länger bleiben. Ah yeah, fuck your uncle, who cares! Listen, das geht schon alles klar und ich werde mich darum kümmern. Du bist jetzt in der Pizzeria in Manali? Cool, cool, I’ll see you there. Gib mir zwanzig Minuten. Oh, cool, no problem, I’m leaving now, yah! Take it easy! Ok. Ok. Ja. Bye.“

„Crazy girls, man.“, murmelte Anil in Vigs Richtung, als er das Handy wegsteckte. Inzwischen war es schon fast ganz dunkel geworden. „Gib mir noch ein Bier.“ „Open?“ „Ja, klar. Weißt du, ich glaube, ohne Mädel ist man einfacher dran, was meinst du? Biste verheiratet? Nee? Cool, Mann, dann hast du ein friedvolles Leben.“ „You married?“, fragte Vig. „No way, man, auf keinsten, aber ich bin halt schon mit dieser Verrückten zusammen. Und mit ihrere Familie. Wir Inder spinnen da ja schon ein bisschen. Wie auch immer, ich erzähl dir das ein andermal, I gotta run. Noch ne Kippe? Ok, see you later?“

Anil trank die eine Flasche aus, nahm die andere in die Hand und setzte sich wieder in den Wagen. Eine schnelle und gekonnte Dreipunktwendung und schon sauste das schwarze Auto wieder die Straße hinab. Für Vig glitt der Abend weiter vor sich hin, wie ein schwacher Wind, eine Brise eben, ohne Spuren und Abdrücke, und schon bald dachten die beiden nicht mehr aneinander.

2
Stefan warf den Ordner in die Ecke, so daß sich die Blätter aus der Halterung lősten und durcheinander über den Boden flogen. „Fuck you!“, schrie er, daß der Speichel ihm vom Mund wegflog. Dawa sah ihn ausdruckslos von der anderen Zimmerseite her an. Die Morgensonne warf ihre Strahlen durchs geőffnete Fenster schräg in den zornig aufgewirbelten Staub. „Deine Scheißfamilie ist mir sowas von egal! Wieso muss ich mich denn darum kümmern? Jedem Arsch soll ich helfen, aber für mich macht keiner mal was, keiner! Ihr habt ja wohl ne Meise! Du bist meine Frau und hälst dabei doch nie zu mir, was soll denn das ganze Theater überhaupt noch?“ Dawa antwortete nicht. Ruhig ging sie zu dem Ordner und sammelte die Papiere wieder auf. „Ums Geld geht’s, was?“, schrie Stefan weiter. „Business, business, what the fuck, jetzt kannste ja alleine weitermachen und sehen, wie’s läuft.“ Er verließ stampfend das Zimmer und seine still die Blätter ordnende Frau. Schnell waren einige persőnliche Gegenstände in einer Umhängetasche verstaut. Zärtlich, aber innerlich bebend streichelte Stefan noch einmal den Hund, dann rammte er die Haustür hinter sich zu und fuhr mit dem Scooter viel zu schnell den Schotterweg zur Hauptstraße empor. Fünfzehn Minuten später hatte er Vigs Laden erreicht, den dieser gerade aufschloß, denn es war gerade erst kurz vor Mittag. Im Zimmer des Hauses setzte sich langsam wieder der Staub. Dawa saß regungslos vor dem Aktenordner und hielt lose Blätter in ihren Händen. Buchungsformulare und Trekbeschreibungen. Sie atmete ruhig und dachte an den Buddah. Doch sie hatte Angst.

3
Es war schon mittag, als Maria endlich bei Rumsingh eintraf. Sie kam von der Rückseite, durch den Wald, der das Grundstück nach hinten hin abschloss. Vor dem Haus schwang sich der Hang sanft zum Dorf hinab, und Apfelbäume drängten sich darauf um Platz. Rumsingh saß am Gartentisch bei einem Glas Tee und einem Joint, während seine Frau sich irgendwo im Haus zu schaffen machte. Als Maria vom Kuhstall her um die Hausecke kam, grunzte er müde, winkte sie heran und gab ihr den Joint in die Hand. Eine Altlast war sie, das wusste er, doch musste er sich nun einmal um sie kümmern. Aber sie sollte verschwinden, raus aus dem Tal, irgendwohin, wo sie seinem Leben nicht weiter im Wege stehen konnte. Immerhin hatte sie sich die Dreadlocks abgeschnitten und trug auch wieder Schuhe. Niemand würde so in ihr ohne weiteres den Altfreak und Junkie erkennen kőnnen. Aber jemand mit einem geübten Blick würde die Vergangenheit in ihren Augen erkennen, in ihrem Gang und in ihrer Kőrperhaltung, das wusste Rumsingh. Also musste sich weg, ehe so jemand sie nach Ausweis und Visum fragen würde. Er streichelte sich über seinen dicken Bauch, schob die Sonnenbrille nach oben auf die Stirn und sagte „Maria, ich habe heute eine Mitfahrgelegenheit für dich gefunden. Du fährst nach Delhi. Dort erhälst du einen neuen Pass und wir werden auch die Visumfrage regeln. Dann geht’s weiter nach Pune, wo du dir in Ruhe ein neues Leben einrichten kannst, denn nach Deutschland wirst du ja wohl nicht mehr wollen, oder? Take it or leave it. Das ist die letzte Hilfe, die ich dir anbieten kann.“

Maria kam kurz nach Mittag zu Vigs Laden und holte sich eine kleine Flasche Whisky.

4
Priya saß bereits im Auto und suchte in den lose in einer Kiste liegenden CDs herum. Anil warf noch eine Tasche hinten auf den Rücksitz, winkte noch einmal dem Besitzer des „Om Shanti“-Guesthouse und setzte sich ans Lenkrad. Er hielt Priya die Schachtel Kippen hin, die nahm sich eine, dann steckte auch er sich eine in den Mundwinkel. „Also, ist jetzt so weit alles geklärt mit deiner Familie?“ Priya blies den Zigarettenrauch aus dem Fenster. Draußen krächzten die Krähen schwarz und unfőrmig in den Tannen. Das Auto stand still da in der noch warmen Nachmittagssonne dieses Oktobertages. „Geklärt?“, fragte sie spőttisch. „Ich habe jetzt super Riesenärger mit meiner Ma, was denkst du denn? Die kann das gar nicht nachvollziehen, dass ich lieber mit dir nach Delhi fahre als hier oben in ihrem Hotel zu versauern. So etwas hätte sie ja selbst nie gewagt. Du hättest mal meinen Onkel dazu hőren sollen. Unverheiratet! Eine gemeinsame Wohnung! Fucked up, I say. Der kommt uns glatt noch hinterher und lässt mich in Ketten legen. Dabei streitet er sich mit seiner eigenen Frau immer nur herum. Sei froh, daß du diese Typen gar nicht erst kennst. Da hast du ne viel coolere Familie, aber die Leute in Goa haben halt eh schon viel mehr erlebt, mit den ganzen Hippies und jetzt der Touri-Boom.“ Anil drehte den Schlüssel und der Motor sprang an. „Lustig, ey, jetzt müssen wir den Hippies auch noch dankbar sein, dabei waren sie die Vorboten des Ausverkaufs unserer Strände. Off we go!“ Damit verließen sie das Bergdorf Manali, fuhren hinunter an den dunkel dahinrauschenden Fluss Beas, vorbei an den neu gebauten Betonbunkern, in denen indische Mittelklasseflitterwőchler ihre Ferien verbrachten. Dosas wurden angeboten, bengalisches Essen an jeder Ecke, Zuckerwatte wie auf einem Rummel, dazwischen Bergbauern mit ihren Kühen. Auf dem Weg durch den Vorort Aleo klingelte Anils Handy.

„Ja, Rumsingh, what’s going on, I’m just leaving... what? What! Ist das wirklich nőtig? Mann, ich habe echt schon genug Sorgen! Damit fallen wir doch noch mehr auf, du bist vielleicht gut, auf gar keinen Fall... Na und, wer trägt denn hier das ganze Risiko? Das kannst du mir aber so echt nicht reindrücken! Wie jetzt, die Erbsen gibt’s billiger, das hilft mir dann auch nicht mehr, Teufel auch. (...) Fuck you, Rumsingh, ok, wo ist der Pick-up? Karjan? Mother’s Finest Restaurant? Na gut, ich bin in einer Viertelstunde da. Ok, fuck you. Ciao.“

Priya sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Anil steckte das Telefon weg und zündetet sich eine neue Kippe an. „Was? Was schauste mich denn so an?“ „Hast du was mitgenommen? Sei bloß ehrlich!“, sagte Priya mit angespannter Stimme. Anil saugte an seiner Zigarette. „Was denkst du denn? Irgendwie muss ich diese verfluchte Wohnung doch finanzieren. Ich kann auch nicht zaubern. Jemand wird es in Delhi abholen und weiter nach Goa bringen, also relax! Ist ja nicht so weit, und es ist gut in der Karre versteckt.“ „Wieviel?“ Priya starrte geradeaus. „Fünf Kilo oder so.“ „Oder so? Anil, du bist ja noch ein viel grőßeres Arschloch als mein Onkel meint.“ „Entspann dich, Baby.“ „Für fünf Kilo ODER SO, da gehen wir ein paar Jahre in den Knast, mein Lieber, da hilft kein Backsheesh, mein Lieber, das ist vőllig verschissen, mein Lieber, ich soll mich nicht stressen, du bist vielleicht gut. Du hast sie nicht mehr alle, das ist los, my dear. Fuck! Und ich kann jetzt nicht mehr zurück, ich würde meine ganze Selbstachtung vor der Familie verlieren. Arsch!“ Im Auto war es still, beide rauchten und sahen auf die Straße.

Priya holte hőrbar Luft. „Also gut, das mit Delhi muss funktionieren, sonst bin ich in jeder Hinsicht am Arsch. Anil, ich habe alles auf diese Karte gesetzt. Please, don’t fuck up!“ „Don’t worry, baby, everything’s gonna be cool. Das ist nur für unser Startkapital.“ Priya blies die Luft wieder durch die Nase raus. „Sprich nicht mit mir wie mit einem Mäuschen, das geht mir auf die Nerven. Anyway, ok, wir kriegen das hin. Ok. Es muß einfach gehen.“ Sie griff zur Zigarettenschachtel. „Da ist noch was.“, sagte Anil leise, während er den Wagen an einem Laster vorbeilenkte. Priya hielt inne, nahm dann die Zigarette. „Right, ok, hau rein, sag schon, wo wir gerade dabei sind.“ Sie sah ihn direkt an. „Wir müssen jemanden mitnehmen. Eine Deutsche. Sie hat keinen Pass.“ „You, Anil, you are completely fucked up.“ Damit blies sie ihm den Rauch ihrer Zigarette direkt ins Gesicht.

5
Es war gerade mal fünf Uhr und Stefan ließ sich von Vig sein drittes Kingfisher aufmachen. Seine Reisetasche hatte er in der Ecke des Ladens abgestellt. Er selbst saß auf dem Hocker an der Wand neben dem mannshohen Kühlschrank und wiederholte immer wieder seine Leidensgeschichte. Wie er sich verliebt hatte in die kleine Buddhistin aus dem Hochtal von Lahaul. Wie die Romanze ihm den Kopf verdreht hatte. Eine Wohnung in Berlin hatte er verkauft, das neue Haus hier im indischen Himalaya gebaut, die Trekkingagentur ins Leben gerufen. Alles hatte schőn und problemlos sein sollen. Er war glücklich gewesen bei diesem Neubeginn. Dann habe man ihm alles weggenommen. Nicht auf einmal, nein, sondern schleichend, nach und nach. Dawas Bruder war mit seiner Frau auf Besuch gekommen, schließlich ganz eingezogen. Beim Trekking hatte er mehr und mehr Dawas Familienangehőrige beschäftigt, bis er vőllig in deren Abhängigkeit geraten war.Und zuletzt hatten sie ihn mit ständigen Streitereien aus dem Haus geekelt. Das Schlimmste war, daß er dabei die Liebe zu Dawa verloren hatte, denn zuletzt konnte er auch ihr nicht mehr trauen. Nie hatte sie gegen die eigene Familie und für ihn Partei ergriffen. Stets war sie stumm geblieben und hatte Stefan seiner zunehmenden Isolation überlassen. Jetzt konnte er nicht mehr und musste weg. Alles, was er noch besaß, war in dieser Tasche, die auf dem Betonboden des Ladens stand. Alles. Aber er sei um Erfahrung reicher. Rot waren seine Augen angelaufen, fast hätte er geweint. Aber er riss sich zusammen, bewahrte sein Gesicht vor der Auflősung und machte es hart, kantig. Mit Schwung kippte er das Bier hinunter.

Zehn Kilometer nőrdlich saß Maria im „Mother’s Finest“, rauchte einen Joint und wartete auf die ihr versprochene Mitfahrgelegenheit. Das Restaurant, das von einem Niederländer betrieben wurde, lag nicht an der vielbefahrenen Hauptstraße nach Manali, sondern an der kurvenreichen gegenüberliegenden Alternativroute. Dort war es wesentlich ruhiger, denn nur wenige Lkw fanden den Weg durch die zahlreichen Dőrfer auf dieser von Seitentäler ausgefransten Seite des Tales. Es war mehr ein Cafe, in dem allerlei Bio-Waren verkauft wurden, auch Gemüse und Salat, Käse und Kuchen. Viel Betrieb war allerdings selten, außer bei den zahlreichen abendlichen Parties, zu denen sich doch immer wieder erstaunlich viele Ausländer und Inder einfanden. Dann gab es Live-Musik, Bier und natürlich etwas ordentliches zum Rauchen. Aber jetzt, am Nachmittag, war Maria der einzige Gast. Mark brachte ihr den zweiten Kaffee und setzte sich ebenfalls an den wackeligen Tisch, der neben dem eigentlichen Restaurant unter einem Apfelbaum stand. „Also fährst du heute?“, fragte er ruhig, aber mitfühlend, denn er konnte nachempfinden, wie schwer ihr dieser Schritt fallen musste. „Sicher nicht so einfach. Immerhin warst du ja fast zwanzig Jahre lang hier in diesem Tal. Aber du schaffst das schon, bist ja schließlich ne starke Frau, oder? Ich wünsch dir jedenfalls alles Gute. Geht ja immer irgendwie weiter, oder?“ Sie rauchten schweigend. „Ich weiß nicht, ob ich es anderswo werde aushalten kőnnen.“, sagte sie nach einer Weile. „Diese Berge, die Luft, das Essen, das Feuer. Ja, ich glaube, den Geruch des offenen Feuers werde ich am meisten vermissen. Vielleicht muss ich in einer Stadt wohnen, wo alles eng ist und die Kleidung nicht nach Rauch und Schaf sondern nach Waschmittel riecht. Ob ich das kann?“ Sie lehnte sich zurück und sah in das Geäst des Baumes über ihnen. „Tja, ich weiß, was du meinst. Für mich ist immer das schlimmste, nicht mehr ständig draussen zu sein. Diese Verbindung zur Natur, die fehlt mir am meisten, wenn ich in den Westen muss.“, entgegnete Mark langsam. „Aber du musst das so sehen: jetzt beginnt für dich ein neuer Lebensabschnitt. Du kannst nicht ewig das gleiche machen, diese Botschaft gibt dir jetzt das Leben und holt dich hier weg. Du kannst ja immer mal auf Besuch vorbeikommen, wenn deine Passprobleme gelőst sind. Ich meine, das wird ja wohl gehen. Und dann wirst du vielleicht hier viel mehr Spaß haben, denn du musst dann keine Sorgen mehr haben. Wäre doch cool, auch ohne diese Drogenkiste Geld zu verdienen, meinst du nicht? Kein Stress mehr, keiner kann dir was.“ „Naja, da bin ich mal gespannt. Was soll ich denn sonst machen? Ich kann doch nichts. Und dieses esoterische Geschwätz von wegen das Leben gibt Botschaften und so was, das kannste im Ashram lassen, das hilft mir nicht.“ Mark lachte. „Ach weißt du, wie du es siehst, das ist dem Leben ganz egal. Aber was du machst, wie du es machst, das ist entscheidend, und da kommst auch du nicht drum herum.“ Maria trank vom Kaffee, als ein schwarzer Maruti auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen kam. Einen Moment lang drőhnte noch Technomusik aus dem Wagen, dann ging schlagartig alles aus. Die Türen őffneten sich und ein junges indisches Paar stieg aus. „Oh fuck.“, sagte Maria und blickte Mark an. „Hier kommt das Leben.“, meinte dieser grinsend.

Anil ging die Stufen zum Garten hinauf und kam direkt zu ihnen an den Tisch. „Hi, ich bin Anil, fährst du nach Delhi?“ „Hallo, ich bin Maria, ja, ich glaube schon. Bist du ein Freund von diesem Rumsingh?“ „Naja, Freund, jedenfalls kenn ich ihn.“. Er blickte auf die Straße hinunter, wo Priya noch immer neben dem geparkten Auto stand und rauchte. „Jetzt komm halt hoch und sei nicht so angepisst!“, rief Anil ihr zu. Er grinste in Marias versteinertes Gesicht. „Sie meint, daß das alles keine gute Idee ist, und ich weiß es auch nicht, aber wir müssen das jetzt offensichtlich eben so machen. Also kannst du mitfahren, wenn du willst.“ Er setzte sich an den Tisch, reichte Mark die Hand „Hi, Mann, wie geht’s“ und kramte in seinen Tachen nach Zigaretten. Mark stand auf. „Willste auch nen Kaffee?“ „Klar, für sie auch.“, bedeutete Anil mit einer Kopfbewegung zu Priya, die jetzt, noch immer sichtlich verärgert, die Treppen heraufkam.

„Also, erzähl mal, was sollen wir denn sagen, wenn uns einer dumm fragt, wieso wir zusammen fahren?“ Anil sah zu Maria hinüber. „Das habe ich mir auch gerade überlegt. Soviel ich verstehe, seid ihr auch nicht daran interessiert, irgendwie aufzufallen, und da komme ich ja gerade richtig. Ich nehme an, Rumsingh hat von meinem kleinen Dilemma erzählt. Also klar, ich will die Cops auch nicht sehen. Am liebsten überhaupt niemanden, ehe ich wieder einen Pass habe. Aber so geht’s nicht. Ihr habt mich in irgendeinem Guest House aufgegabelt, aber nicht hier in der Gegend. Besser wäre was unverfängliches, vielleicht ein buddhistisches Kloster? Ja, das wäre eine Mőglichkeit. Wir sind Dharma-Geschwister. So eine Esoterik-Geschichte ist spinnig genug, um alles mőgliche zu erklären und wird dabei noch leicht akzeptiert.“ Priya hatte sich inzwischen auch gesetzt. „Hőrt sich ganz gut an“, meinte sie direkt. „Dann kőnnen wir auch unsere Glaubensnamen verwenden und müssen uns nicht mal wirklich kennenlernen. Das ist doch ohnehin besser. Ich zum Beispiel bin die, mmmh, vielleicht Shanti, ne, das ist zu blőde, besser Shashi, ja, Shashi didi, Schwester Shashi, hőrt sich nonnenmäßig an, oder? Und wir kenne uns von einem Retreat, das unser Meister hier irgendwo versanstaltet hat. Jetzt fahren wir nach Delhi, wir nach Hause und du zum Flugplatz, denn leider ist dein Jahresurlaub bald zu Ende.“ Priya schaute lächelnd in die Runde, als Mark mit den Kaffees zurückkam. „Hi, ich bin Shashi, Bruder.“, begrüßte sie ihn. „Ach was, Schwester, und ich bin vom Mond.“, entgegnete dieser. „Du darft nicht so bestoned gucken, wenn du mir weismachen willst, daß du aktive Buddhsitin bist.“, lachte er. „Dafür bin ich schon zu lange im Geschäft.“ „Ja, wir sollten es nicht übertreiben, also tu nicht zu heilig.“, sagte Anil. „Aber das mit den Namen ist nicht schlecht, und ein Retreat ist immer gut. So machen wir’s. Ich bin Ananda, das ist nicht nungewőhnlich. Wie magst du denn heißen?“ „Puh, naja, vielleicht Mira? Irgendwas indisches halt, ist ja wurscht.“ „Ok, Mira, wir sind alle der Erleuchtung einen Riesenschritt nähergekommen. Super!“ Anile lachte und drehte die inzwischen fertige Haschmischung in ein großes Rizlapapier ein.

Es knatterte laut auf der Straße, und eine grüne Enfield hielt neben dem Maruti. Darauf saß ein in gelb gehüllter Mann mit zotteligem weißem Bart und einer Fliegermütze. Es sah zum Garten hinüber, schob seine Sonnenbrille nach oben auf die Stirn und stellte den Motor ab. Dann schob er das Motorrad umständlich in die Parkbucht, klappte den Ständer aus und ließ es in bedrohlicher Schieflage am Hang stehen. Langsam, fast gemessenen Schrittes, kam er rauf, direkt zu dem Gartentisch, wo das Gespräch inzwischen verstummt war. „Hare Krishna“, begrüßte er die anderen. „Au Backe“, sagte Mark und erhob sich von seinem Stuhl. „Setz dich erstmal, Krishna Baba, ich habe noch einen anderen Stuhl in der Küche. „Was magst denn trinken?“ „Na, einen Chai, Mann, und ein Glas Wasser, wennde hast, wäre super. Hare, hare.“ Während Mark davonging, um die Getränke zu besorgen, hing Krishna seine Tasche über den Stuhl und begann, sich aus seiner Kleidung herauszuschälen, denn in der Abendsonne war es immer noch recht warm. „Wie geht’s denn so, Maria?“, fragte er dann und setzte sich.“Och, ganz gut, bin grad auf dem Weg, und wo kommst du her?“ „Ich habe einen Glaubensbruder in Halan besucht. Wir haben über Krishna gesprochen, wie er sich uns offenbart, und das war ganz schőn.“ Krishna sprach langsam und lächelte beglückt. „Verstehste, ist doch das beste, was man machen kann. Űber Gott reden, da wird es einem ums Herz warm. Habt ihr auch schon Zuflucht bei ihm gesucht? Schließlich seid ihr doch aus seinem Land.“, fragte er in Richtung des indischen Pärchens. „Äh, ne, nicht so sehr, aber ist ne dufte Religion, wie mir meine Tante das immer erzählt hat.“, antwortete Anil und sah Maria irritirt an. „Ja, Mann, weißte, das ist eben Indiens Unglück, daß die eigenen Landeskinder nicht mehr ihrer Religion folgen. Dabei seid ihr so nah dran, Mensch, das ist nämlich alles heiliger Boden hier. Oh, ein Joint, wie schőn. Danke. Also, das Gras bingt einen nämlich echt in andere Bewusstseinszustände, da kann man Gott leichter erkennen. Und es ist alles in Krishna. Ja, Mann, ist das nicht unglaublich, aber ist so. Selbst deine kleine Freundin hier ist Krishna. Irre oder, du fickst Krishna, so sehr liebt er dich!“ Krishna saugte laut durch seine Hände an dem Joint. Er stieß dicken Rauch aus, lehnte sich zurück und gab die Tüte an Maria weiter. Mark kam mit dem Tee und Wasser. „Jetzt lass mal meine Kunden in Frieden, Krishna Baba. Du hast ja recht, aber nicht jeder ist so weit im Bewusstsein entwickelt wie du. Da kannst du die Leute leicht überfordern damit. Immer locker bleiben, nicht wahr?Ich hatte heute auch schon eine gőttliche Eingebung, nämlich daß ich tierisch viel Geld verdienen muss, und schon seid ihr hier in meinem Cafe! Ist doch irre, wie jetzt bei mir der Rubel rollt.“ Mark lachte und schlug sich mit seinen breiten Händen auf den Oberschenkel. „Wenn’s so weitergeht, kann ich mir in einer Stunde ein Bier leisten!“ Das war der Moment, in dem das grüne Motorrad am Straßenrand mit einem dumpfen Schlag auf die Seite fiel. „Fuck, mein Tank läuft aus!“, rief Krishna und lief mit langen Schritten hin, um es wieder aufzurichten. „Kein Problem, der ist nur ein bisschen verrückt.“, raunte Maria Priya zu. „Aber von dem kőnnen wir uns was abgucken, was Shashi?“

6

Stephan war in Vigs Laden inzwischen auch nicht mehr alleine. Carlos hatte sich zu ihm gesellt. Der breite Spanier war nur während der Sommermonate in den Bergen und mietete sich während der überwiegenden Zeit des Jahres ein Haus in Goa. „Scheissteuer hier oben in den Bergen.“, pflegte er zu sagen. „In Goa gibts das Bier zum halben Preis und das Essen ist auch deutlich günstiger.“ „Dann bleib halt unten.“, riet ihm Vig dann genervt, wenn er wieder einmal so meckerte. „Naja, da regnet es jetzt aber einfach zu viel. Kannste nur in der Bude hocken. Puta! Ist auf die Dauer zu langweilig. Nene, hier ist’s auch ganz schőn, so ist es ja auch wieder nicht.“ Carlos und Stephan saßen jetzt draußen vor dem Laden auf einer Bank, die sie in der Sonne plaziert hatten und hielten jeder ein Bier in der Hand.

„Deine Geschichte überrascht mich nicht ein bisschen. Ich sag dir eines, Mann, und das kannste dir merken: auch in Goa ist da nie was gutes bei rausgekommen, wenn sich ein Ausländer mit einer Local Lady eingelassen hat. Stets gab es Ärger, häufig Tränen, aber immer Geldverlust. In ganz Asien hőrt man tatsächlich immer wieder dieselben Geschichten. Und weißt du woran das liegt? Nicht etwa daran, daß, wie die meisten meinen, die Frau besonders hinterhältig wäre, geldgierig und gemein. Mitnichten! Das einzige Problem ist, daß ihr Idioten nur noch mit dem Unterleib denkt und alle Sicherheiten in den Wind haut. Natürlich gibt es einen großen Einkommensunterschied, und das weiß die ganze Familie des Mädchens. Ist doch sonnenklar, daß da versucht wird, was draus zu machen. Wie blőd kann man sein, aber das ist eben die Schwanzsteuerung. Jetzt brauchst du deswegen auch kein Mitleid, sondern du musst mal einsehen, dass du diese Situation selbst zu verantworten hast. Die Frauen hier sind doch auch nicht anders als bei uns. Das sieht nur an der Oberfläche so aus.“

Carlos war jetzt richtig in Fahrt und unterstrich seinen Vortrag mit ausholenden Handbewegungen. Vig sah vom Laden herüber und hőrte zu. Diese Ausländer waren einfach zu exzentrisch. So in der Őffentlichkeit würde er sich niemals produzieren. Der Hotelbesitzer von nebenan, ein Mann in den schzigern, der den Betrieb bereits an seinen ältesten Sohn weitergegeben hatte, war auf einen abendlichen Whiskey vorbeigekommen. Jetzt stand er immer noch am Verkaufstresen und folgte ebenfalls interessiert dem Gespräch.

„Weißt du“, fuhr Carlos fort, „einer der wenigen, bei denen die Heirat gut funktioniert, das ist dieser Krishna Spinner. Kennst du den? Der hat zwar eine Meise und quatscht zuviel, aber er hat auch keine Kohle, deswegen hat er keinen Stress mit seiner Frau. Die ist doch schon froh, wenn er sie so überm Wasser hält. Da hat sie sich schwer verschätzt, denn nicht jeder Weiße hat automatisch Geld, nicht wahr? Anyway, nach meiner Meinung ist das mit den Mädels schon schwer genug, wenn sie dieselbe Sprache reden. Aber das Gerücht, daß die Frauen hier so liebevoll wären, das hält sich hartnäckig.“ Carlos trank noch einen Schluck, und Stephan tat es ihm nach. Er blickt immer nur geradeaus in den Wald hineien.

„Hast du mal einen von den Locals hier gefragt, was sie zu ihren Frauem meinen? Wie angenehm es zuhause ist? Warum denn, meinst du, steht zum Beispiel der alte Boss hier am Laden und sitzt nicht gemütlich zuhause in seinem fetten Wohnzimmer vor dem Fernseher? Weil er da nämlich auch keine Ruhe hat! So sieht es aus.“ Carlos prostete dem alten Herrn an Vigs Theke zu. Dieser lächelte freundlich, aber unverbindlich, trank jedoch auch einen Schluck aus seinem Fläschchen. Die Schatten waren inzwischen schon weit das Tal hinaufgekrochen und nun stand auch die Bank in der Abendkühle. Carlos zog seinen Parka zu und leerte sein Bier, als eine Enfield von unten her um die Kurve bog. Knatternd bewegt sich das grüne Ungetüm an ihnen vorbei. „Hare Krishna“, grőhlte Carlos, aber der Mann auf dem Motorrad blickte nur kurz zur Seite und erwiderte den Gruß nicht. „Der kann mich nicht leiden“, sagte Carlos lachend. Stephan veränderte seine Position auf der Bank auch nicht, als Carlos sich erhob. „Jetzt wird’s aber kalt. Zeit, den Ofen anzuheizen. Nächste Woche bin ich wieder im warmen Goa, dann ist dieser Unsinn erstmal vorbei. Also, Alter, lass es dir nicht zu sehr zu Herzen gehen, bist nicht der Einzige mit dieser Geschichte hier. Ich zahl dir dein Bier mit, aber schau nicht so griesgrämig.“

Damit stiefelte der Spanier hinüber zu Vigs Theke und gab ihm das Geld für die gemeinsam getrunkenen Biere. „Ciao, bis morgen!“ Er ging die Straße hinab zurück zu seinem Guest House. Der alte Hotelbesitzer leerte mit einem Zug die kleine Alkoholflasche, ließ sich noch eine geben, zahlte, und ging dann gemähchlich, mit zufriedenem Schritt, nach Hause. Vig stőpselte den elektrischen Wärmestrahler ein und setzte sich hinter die Theke. Für einen Moment war es ruhig, nur die Krähen suchten sich lautstark in den hohen Tannen ihren Nachtplatz. Die Temperatur sank fühlbar im Minutentakt, aber Stephan schien das nichts auszumachen. Immer noch war seine Wolljacke geőffnet und die Mütze lugte aus seiner Tasche hervor. Düstere Gedanken schienen sich hinter seiner Stirn zu bewegen. Die leere Bierflasche hielt er reglos zwischen seinen knochigen Händen. Die Stirn lag in Falten, der Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Hatte Carlos recht? War er wirklich ein Träumer gewesen, der sich einer Illusion hingegeben hatte. All diese Jahre lang? Das war eine grauenvolle Vorstellung. Verarscht zu werden war schlimm, aber sich selbst zu verarschen, das war noch viel idiotischer. Dabei hatte er sich eigentlich für ganz schlau gehalten. Für einen Fuchs. Aber in Herzensangelegenheiten hatte es ausgesetzt. Oder lag auch hier Carlos richtig, daß ihm das Hirn eben in die Hose gerutscht war? Eine Hupe ertőnte direkt neben ihm und riss ihn aus seinen Gedanken.

Das stand ein schwarzer Maruti neben dem Laden, direkt vor seiner Bank und versuchte zu wenden. Stephan stand auf und verschob die Bank nach hinten, so daß der Wagen genug Platz für das Manőver hatte. Er wendete, hielt aber gegenüber des Shops wieder an. Die Beifahrertür ging auf und eine junge Inderin in Jeans und scharzem Kapuzenpulli stieg aus. „Just a minute. I’m right back“, rief sie ins Wageninnere. Darauf lief sie auf den benachbarten Lebensmittelladen zu. Der Motor des Wagens ging aus und zwei weitere Türen gingen auf.

„Oh fuck.“, entfuhr es Maria, als sie Stephan erkannte.
„Hi Maria“, sagte dieser.
„Hi“, meinte Anil zu Vig.
„Hi, bist du nicht der Typ aus Delhi. Noch ein Bier auf die Fahrt?“, entgegnete dieser.
Das klappt ja schon super mit der Tarnung und dem Nichtauffallen, dachten Maria und Anil, wenn auch in unterschiedlichen Sprachen.
„Wie geht’s denn so?“, fragte Maria laut. Stephan breitete die Hände aus. „Naja, wie du siehst hänge ich am Alkshop. Muss also prima laufen, oder? Aber dass man dich überhaupt hier im Dorf so sieht, das ist ja doch eher ungewőhnlich. Wo wohnst du denn derzeit?“, antwortete Stephan. Und zu Vig: „Hey, gib mir auch noch ein Bier.“
Maria zuckte mit den Schultern. Vig gab Anil und Stephan jeweils ein Bier. Die beiden setzten sich auf die Bank. Von Priya war noch nichts zu sehen, seit sie in dem Tante Emma-Laden verschwunden war. Maria stellte sich vor die beiden auf der Bank sitzenden Männer mit dem Rücken zur Straße. Ah, dachte Stephan, da ist also immer noch nicht alles ganz koscher mit ihr. Bei mir ja auch nicht, super, bin ich nicht alleine. Mit diesem etwas traurigen Gedanken prostete er Anil zu und trank.

„Bist du ein Freund von Maria?“ „Mmmh, also, wir nehmen sie nur ein Stück mit, weißt du. Eine kleine Hilfe.“ „Soso.“ Stephan gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen. „Wo soll’s denn hingehen?“ „Ist doch egal Stephan.“, schaltete sich Maria ein, ehe Anil etwas sagen konnte. Der lehnte sich sichtlich erleichtert zurück, denn die Beziehung zwischen den beiden Ausländern konnte er nicht einschätzen. Beide waren im gleichen Alter, irgendwie Mitte vierzig oder so, und sahen aus, als hätten sie beide eine harte Zeit hinter sich gebracht. Es interessierte Anil aber eigentlich nicht, denn er wollte nur endlich auf die Straße und diese Fahrt beginnen, damit sie auch bald ein Ende fand. Wo blieb denn Priya?

„Wenn ihr auf eine Party fahrt, dann würde ich ja glatt mitkommen. Ich bin nämlich auch gerade ausgezogen und weiß noch nicht, wo ich heute nacht bleiben werde.“, hőrte Anil Stephan sagen. Was soll das denn jetzt, dachte er bei sich, war aber noch nicht sonderlich beunruhigt. Das änderte sich, als er Marias Antwort hőrte. „Wirklich? Gab’s denn Ärger? Brauchst du Hilfe?“ Anil sah auf und bemerkte, daß sich ihre abweisende Kőrperhaltung verändert hatte und ihr Gesicht echte Besorgnis widerspiegelte. Oh fuck, das darf nicht wahr sein, dachte er und nahm noch einen Schluck Bier. Aber es gelang ihm nicht, das Gespräch auszublenden, obwohl er schon wusste, wohin das führen würde. „Ich glaube, ich muss hier erstmal weg, um wieder Luft zu bekommen. Womőglich habe ich in meinem Leben einen Riesenfehler gemacht. Meinst du, das kann sein?“

Maria konnte nicht antworten, denn in diesem Moment kam Priya laut schimpfend aus dem anderen Laden. In der Hand hielt sie eine braune Papiertüte mit allerlei Esskram. „Fuck off, leave me alone!“, schrie sie einem Inder zu. Der wich zurück, als er sah, daß sie nicht alleine war. Im braunen Pullover und mit Schnautzer, sah er aus wie ein typischer Bewohner dieses Dorfes. Nur Vig wusste, daß er aus einem Nachbardorf war. „Wo gehst du denn hin mit diesen Typen?“, fragte der Mann aufgebracht im Dialekt der Region. „Bleib bloß hier, dein Onkel wird schon was für dich organisieren. Diese Stadtkultur ist doch nicht für dich! Das wird Ärger geben!“ „Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“, gab Priya zurück. Schon strőmten weitere Männer aus dem Laden, um die Szene zu beobachten. Wir werden immer unauffälliger, dachte Anil, sagte aber nichts, sondern zahlte das Bier, zischte „Let’s go.“ und ging zum Wagen. Maria sah den verlorenen Blick auf Stephans Gesicht und musste gegen ihren Willen zu ihm sagen „Wenn du deinen Kram dabeihast, dann komm jetzt mit.“ Stephan blickte sie einen Moment erstaunt an. „Fuck it, ok.“ Schnell ging er zu Vig und holte seine Sporttasche unter dem Tresen hervor. Er gb ihm einhundert Rupien. „Der Rest ist Tip.“ Alle Türen des Maruti őffneten sich gleichzeitig. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, so daß Stephans Anwesenheit erstmal gar nicht auffiel. Der Mann vor dem Laden zeterte immer noch. Jetzt schien er den Umstehenden die Situation zu erklären. Es sah so aus, als wollte er auf der Straße stehenbleiben, um das Auto aufzuhalten. Anil gab Gas, der Weg war frei, es ging los. In Richtung Delhi. „Wer zum Teufel ist denn das?“ fragte Priya einige Minuten später nach hinten gewandt. „Ein Freund. Der muss auch mit.“, antwortete Maria. „Fuck.“ Jeder der Wageninsassen zündete sich eine Zigarette an.

7

Eine ganze Weile lang sprach niemand ein Wort. Es war inzwischen fast ganz dunkel geworden. Das letzte Tageslicht verharrte hinter den Berggipfeln und der Himmel zeigte noch nicht alle Sterne, doch fuhren sie bereits mit Beleuchtung und im Wagen konnte man nur die Schatten der anderen erkennen. Anil hatte schon auf die rechte Talseite gewechselt. Er versuchte, nicht an das Hasch im Wagen zu denken. Statt dessen konzentrierte er sich auf die kurvige Straße. Vorsicht Hund, was macht der Radfahrer da, was zum Teufel treiben diese Kühe, da steht ja ein unbeleuchteter Lkw, hoffentlich bleibt der Scooter auf seiner Straßenseite, ist der da vorn besoffen, hoffentlich halten uns die Bullen nicht an. „Priya, mach doch mal Musik, ich schlafe gleich ein.“

Die Deckenbeleuchtung ging an und Priya kramte im Handschuhfach. Im Rückspiegel konnte er Stephan und Maria sehen. Beide blickten unbeteiligt aus dem Fenster. Als Maria ihm in die Augen sah, schaute er schnell wieder auf die Straße. Eine harte, rauhe Frau, dachte Anil. Ob er auch so ausschauen würde, wenn er weiterhin am Rande der Gesellschaft zu leben versuchte. Er war jetzt Mitte Dreißig, also vielleicht gerade mal zehn Jahre jünger als sie. Sie würde nicht mehr dorthin zurückkehren kőnnen, woher sie einmal gekommen war. Zu viel war passiert in den letzten Jahrzehnten, zu weit weg war sie gedriftet. Vielleicht phantasierte er, aber sie kam ihm wie eine Einzelkämpferin vor, wie sie dort auf dem Rücksitz saß und wahrscheinlich zum x-ten Mal mit nichts in eine ungewisse Zukunft fuhr. Dafür bewunderte er sie. Würde er selbst dieselbe Kraft haben? Denn es wurde zunehmend wahrscheinlicher, daß auch er nicht mehr an den Ort seiner
Kindheit, zu seinen alten Freunden und Hobbies würde zurückkehren kőnnen.

Inzwischen hatte er, aus einem kleinen Dorf in Goa kommend, in Bangalore studiert, ohne abzuschließen. Er war nach Mumbai gegangen, hatte dort gearbeitet, den Job geschmissen, in Pune gewohnt und nun ging es also nach Delhi, wo er auch nur eine ungenaue Vorstellung davon hatte, war er machen wollte. Er war ganz gut im Webdesign und Programmieren, da würde er schon wieder eine Arbeit bekommen. Aber das interessierte ihn eigentlich nicht mehr. Es war an der Zeit, davon loszukommen, denn schon das Studium konnte ihn nicht begeistern und seine Arbeitsstellen bisher hatten ihn auch schnell die letzten Nerven gekostet. Ob es viel besser war, mit zwei wahnsinnigen Ausländern, einer unberechenbaren Freundin und einigen Kilo Hasch durch die Gegend zu fahren, naja, aber jetzt musste er grinsen. Immerhin war es eine Story. Auf diese Weise plätscherte sein Leben nicht einfach so vor sich hin, denn das war seine grőßte Angst. Würde ihn die Anstrengung, die so ein Leben erforderte, genauso hart machen, wie die Frau auf der Rückbank zu sein schien?

Sie erreichten Kullu. Die Straße durch den Ort war eng. Eine Menge Busse und Lkw mussten im Schritttempo aneinander vorbeizuckeln, um die Häuserzeilen auf beiden Seiten nicht zu streifen. Langsam folgten sie einem Swagtam-Bus. Priya versuchte, sich von der elektronischen Musik in eine andere Welt tragen zu lassen. Sie wollte nicht an den Polizeikontrollposten weitere fünfzehn Kilometer vor ihnen denken. Vielleicht würden sie ja gar nicht angehalten. Jetzt war ohnehin nichts mehr zu machen, denn aussteigen konnte sie nicht. Oder? Sie sah in die beleuchteten Geschäfte rechts und links der Straße. Irgendwie beneidete sie diese Menschen, die da Tag für Tag ihren Laden aufschlossen und verkauften. Es gab keine Brüche in ihrem Leben, nichts zu entscheiden, nichts zu wagen. Sie übernahmen den Laden des Vaters, heirateten eine ihnen ausgesuchte Frau, bekamen Kinder, spielten Karten, und lebten eben so in einer Tradition fort, die ihnen alle schweren Fragen des Lebens abnahm. Wieso konnte sie das nicht? Schon während der Schulzeit kam ihr diese Aussicht in ihrer Beengung einer offenen Zukunft geradezu lächerlich vonr, und um das allen klarzumachen, war sie ja dann auch abgehauen. Nach Goa war sie gefahren, mit gerademal vierzehn Jahren. Dort hatte sie in einem Familienhotel mit erfundenen Gründen für eine Woche ein Zimmer gemietet. Ihre Mutter hatte sie natürlich schon nach wenigen Tagen gefunden, aber die ganze Aufregung hatte ihr Spaß gemacht. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich frei und in Kontrolle ihres Lebens gefühlt. Diese Erfahrung hatte sie nie mehr verlassen. Danach war es in ein Internat gegangen. Zuletzt hatte sie wieder bei ihren Eltern gelebt, aber nur für kurze Zeit, denn auf einer Party hatte sie Anil getroffen. Mit ihm hatte sie dann schon einige Male Autotouren durch verschiedene Teile Indiens gemacht und das Land erstmals als zurückgebliebenes, in Traditionen verheddertes Gebilde erkannt. Während die Ausländer, die sie trafen, ganz locker umherfahren konnten, wurden sie als unverheiratete junge Inder stets angestarrt. Űberall schlug ihnen offene Mißbilligung entgegen. Nur in den Städten ging es, deshalb wollten sie jetzt auch in Delhi bleiben. Aber sie schämte sich für ihr Land, das so unfortschrittlich und engstirnig den eigenen Menschen gegenüber war, wo es doch gleichzeitig Ausländern gegenüber so liberal auftrat. Es war ihr zuwider, dieser Tradition zu folgen, die ihr gegenüber so wenig Respekt zeigte. Fuck them, dachte sie, und blieb auch deswegen weiter in einem mit Drogen und schrägen Typen gefülltem Auto sitzen.

Jetzt waren sie durch die Stadt Kullu hindurch. Sie fuhren am Flughafen vorbei. Immer wieder beleuchtete Geschäfte mit Schals aus der Gegend. Im Auto hőrten sie nur die Musik. Dann kam der Stau direkt vor der Schranke. Da standen schon ein paar Busse vor ihnen in einer Schlange. Vorne blinkten die Lichter des Kontrollpostens. Anil reihte sich ein.

„Maria, schau freundlich, verstecke dich nicht.“, sagte Stephan. „Arschloch, kümmere dich um dich selbst. Ich mache das auch nicht zum ersten Mal.“ „Aber du hast keinen Scheißpass. Sobald sie danach fragen, sind wir am Arsch. Ich hätte nicht mitfahren sollen. Ich wusste es. Sowas blődes.“ „Halt dein Maul.“, unterbrach ihn Anil. „Du bist eben mitgefahren. Die werden uns nicht anhalten. Bleibt jetzt mal locker, hier sind Chips, esst was, damit ihr was zu tun habt.“ Priya reichte die Chips-Tüte nach hinten. Sie kurbelte ihr Fenster herunter und zündete eine Zigarette an. „Ob das so clever ist?“, fragte Anil. Die schaute ihn an, als hätte er jetzt eine totale Meise. „Wir sollen doch locker sein, oder? Na also, jetzt kőnnen wir eh nichts mehr machen.“

Der Swagtam-Bus vor ihnen kam an der Schranke zum Stehen. Einige Polizisten in khakifarbener Uniform stiegen in den Bus. Hinter ihnen stand der Volvo-Bus der Himachal Tourismusbehőrde. In Lichter gebadet saßen sie da und warteten. Priya rauchte und Stephan stopfte sich Chips in den Mund. Die Polizisten stiegen aus dem vorderen Bus wieder aus. Sie hatten zwei langhaarige Ausländer dabei. Der Busassistent kam mit und őffnete das Gepäckfach. Eine zweite Gruppe Polizisten näherte sich. Sie gingen direkt an ihnen vorbei und schienen nur Blicke für den hinter ihnen stehenden Bus zu haben. Der letzte von ihnen hielt kurz an, sah Priya und wies mit einer lässigen Handbewegung zur Seite. „Go go“, sagte er, dann ging auch er weiter.

Anil versuchte, aus dem engen Raum zwischen den beiden Bussen herauszukommen. „Beeil dich, Mann. Mach jetzt bloß keinen Scheiß.“ „Danke Priya, daß du mir so meine Nerven beruhigst.“ Nach ein paar Mal Vor- und Zurücksetzen kamen sie an dem Swagtam-Bus vorbei. Ein Polizist war gerade dabei, mit einer Taschenlampe im Gepäck herumzusuchen, während die beiden Touristen danebenstanden. Langsam fuhren sie an der Szene vorbei. Die Schranke war auf, einige Menschen standen dort herum. Anil fuhr weiter, achtete nicht darauf, was das für Leute waren. Dann ordnete er sich links ein und schaltete hoch. Sie beschleunigten. Anil merkte erst jetzt, daß er die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Jetzt musste er erst einmal richtig durchatmen. „Eyeyey, fuck me, das war ja ganz schőn hart.“, bemerkte Priya. „Das ist mir erst jetzt klar geworden, was für ein Mist das ist, jemanden ohne Pass dabeizuhaben, wo die doch jeden Ausländer sofort danach fragen. Irre. Der Hasch ist da ja nicht halb so schlimm.“ „Ja, toll, aber du hast doch gesehen, daß sie jedes őffentliche Verkehrsmittel kontrollieren. Nur mit euch Kids hatte ich eine Chance, das hat der alte Fuchs Rumsingh schon richtig gesehen. Wenn dieser Depp hier neben mir seine Klappe gehalten hätte, wäre euch das auch gar nicht aufgefallen.“ Maria sah Stephan bőse von der Seite her an. „Hey, ihr Nasen, ich trage hier das ganze Risiko und es hat sich noch keiner bei mir bedankt.“, meldete sich Anil. „Immerhin ist es mein Hasch hier im Wagen, mein Wagen, und ich fahre. Und mit dabei habe ich euch beide, passlos und was weiß ich sonst noch wie drauf. Wie ein Chorknabe siehst du auch nicht aus, mein lieber Stephan.“ „Was, da ist auch noch Hasch im Wagen? Na, ihr seid ja krass, und ich dachte, ich hätte Glück gehabt, das Tal so schnell verlassen zu kőnnen. Dabei wäre ich beinahe noch für einige Jahre dort geblieben.“ „Kőnnt ihr mal aufhőren?“, fragte Priya genervt. „Wir sind noch nicht in Delhi, also sollten wir erstmal cool bleiben, ok? Wir fahren jetzt noch ein Stück weiter, dann machen wir eine Pause. Bis dahin sind wir schőn still und streiten nicht, klar? Ich komme mir ja vor wie in einem Kindergarten.“ Die Blicke der Fahrzeuginsassen waren wieder nach draußen gerichtet.

Sie folgten dem Beas flussabwärts. Rechts türmte sich der Berghang dunkel auf, links sahen sie zum dunkel schäumenden Fluss hinab. Sie kamen recht zügig voran, denn die Busse waren jetzt, nach der Sperre, weit auseinandergezogen unterwegs und leicht zu überholen.
„Sorry, Maria, daß ich da grad uncool war. Du weißt doch, daß ich keine guten Nerven habe.“, begann Stephan nach einer Weile in ruhigem Ton. „Und im Moment geht es mir eben nicht so gut. Die Dawa hat mir alles abgenommen, oder ich habe ihr alles gegeben. Ist ja auch egal, jedenfalls ist mein Leben hier ziemlich zusammengebrochen. Bei dir war es sicherlich damals schlimmer, aber ich bin eben auch nicht so tough wie du.“
Maria sah weiter aus dem Fenster.
„Damals, da habe ich dich echt bewundert. Nachdem der Peter im Knast gelandet war und deine kleine Schwester in Goa verunglückt ist, also daß du da alles so geregelt bekommen hast, das fand ich erstaunlich. Ich wäre sicherlich total ausgeflippt.“
„Das weiß ich, Stephan, deshalb habe ich dir diesen Lift auch angeboten. Der Zusammenbruch stand dir schon in den Augen geschrieben. Aber pass auf: du flippst nicht aus, denn das kann hier keiner brauchen. Wir nicht, und du selbst auch nicht. Mach jetzt einfach erstmal die emotionale Tür zu und denke praktisch. Betreibe Schadensbegrenzung. Du musst dich in eine Position bringen, wo du dann über das Geschehene reflektieren kannst. So habe ich das auch gemacht, nachdem Sofie tot war und Peter weg. Das bekommst du schon hin. Jetzt halte erstmal deine Klappe, denn die alten Geschichten will auch nicht jeder wieder hőren.“

Priya wechselte die Musik. Harter Full-on Techno drőhnte aus den Bässen. Sie tauschte einen Blick mit Anil. Wahnsinn, dachte der. Da habe ich die kleine Priya ja ganz schőn unterschätzt. Na sowas, bleibt sie da so cool. Ich sollte mich mehr um sie bemühen, das ist echt eine Wahnsinnsfrau, dachte er im Stillen. Ich glaube, ohne Anil wäre ich besser dran, dachte Priya. Dann müßte ich nicht immer so verunfallte Situationen ausbessern. Na, mal sehen, wie’s in Delhi weitergeht, aber ich werde von jetzt ab hübsch vorsichtig sein. Dem galube ich erstmal so leicht nichts mehr von seinen tollen Plänen.

Sie kamen an einen Tempel, der dicht an der Straße angelegt war, und dessen Gőtterstandbild deshalb gut zu sehen war. Anil hielt den Wagen an und gab dem herankommenden Tempelpriester einige Rupien. Sie reichten die von der Gőttin gesegnete Speise im Auto herum. Es waren nur ein paar Zuckerstückchen, aber irgendwie fühlte jeder eine gewisse Befriedigung dabei, hier wohl angelangt zu sein. Einige Kilometer hinter dem Tempel fuhren sie eine Seitenstraße hinein und hielten an. Maria kramte in ihren Taschen, und auch Anil begann, aus einer kleinen Ritze in der Tür seine Papers herauszuholen. Schweigend wurde gebaut und ebenso still geraucht. Dann machten sie die Musik wieder an und fuhren zurück auf die Hauptstraße. „Let’s go“, meinte Anil.

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